Warum ich aus den Grünen austrete – ein Offener Brief.
An was denken Sie beim Begriff „Zeitenwende“?
Klar, an den 24. Februar 2022 natürlich, das wird Ihnen ja gerade eingetrichtert. Bombardements aus der Luft und nächtliche Explosionen liefern immer gute Fernsehbilder, das war auch schon im ersten Golfkrieg so.
Wahrscheinlich denken Sie auch an den 11. September 2001 und die teuflisch-geniale Ikonographie des Terrors. Unter dem Schock der Ereignisse wird der weltweite Krieg gegen den Terror ausgerufen.
Der digitale Überwachungsstaat macht einen großen Schritt nach vorne, das Völkerrecht und die friedliche Konfliktlösung einen großen Schritt zurück.
Die Bush-Doktrin räumt den USA das Recht auf einen Präventivkrieg ein, wo immer sie ihre Interessen für gefährdet halten.
Mindestens 1,3 Millionen Menschen sterben in Afghanistan, Pakistan, Irak und Libyen; die Länder werden um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Oder an den 11. März 2011, der uns mit einer Dramaturgie, die von Roland Emmerich hätte stammen können, einen 72-stündigen Wochenend-Thriller mit dem Finale eines „explodierenden“ Kernkraftwerks in Fukushima geliefert hat.
Obwohl Fukushima dem Pro & Contra der deutschen Atomsicherheit kein einzig neues Sachargument hinzugefügt hat, vollzieht die Politik vor dem Hintergrund anstehender Landtagswahlen und angeheizt durch mediale Dauerbombardierung in wenigen Tagen eine 180-Grad-Wende. Dadurch steigt der fossile Anteil im deutschen Strommix und auch die Abhängigkeit von russischem Erdgas, das zu dieser Zeit aber noch keinen politischen Makel hat.
Aber vergessen wir bitte auch nicht den Corona-März 2020. Es werden nicht nur Grundrechte eingeschränkt, sondern auch „Rettungspakete“ in dreistelliger Milliardenhöhe geschnürt, die sämtliche fiskalischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte wie Kindergartengeplärr erscheinen lassen. Die psychosozialen und sozioökonomischen Folgen werden ausgeblendet, es regiert der virologische Tunnelblick auf die Inzidenzen. Die medizinwissenschaftliche Ursünde dabei: Es wird von Anfang an nicht zwischen Tod „mit“ und „durch“ Corona unterschieden.
Und nun also der Ukraine-Krieg: Nach dem „Varadu“ (Abkürzung für: völkerrechtswidriger Angriff Russlands auf die Ukraine) macht die deutsche Außenpolitik an einem einzigen Wochenende eine Kehrtwende:
Ein 100 Milliarden schweres Programm zur Aufrüstung wird als „Sternstunde“ des Bundestages bezeichnet; die Grünen entdecken auf wundersame Weise ihre Liebe zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und zu Fracking-Flüssiggas aus den USA. Das „Z“ wird ein böser Buchstabe.
Vier Ereignisse, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben? Vier weltweite Krisen, auf die die Weltgemeinschaft so reagiert hat, wie sie reagieren musste? Jedes dieser Ereignisse erhielt Attribute wie „Zeitenwende“ und „die Welt ist eine andere geworden“ – sie wurden so oft von Politikern und Medien wiederholt, dass innerhalb kürzester Zeit der Boden für eine politische Kehrtwende bereitet war.
Aber waren diese Ereignisse „objektiv gesehen“ wirklich so einschneidend für den Lauf der Weltgeschichte?
Mir scheint: In allen vier Fällen war nicht das Ereignis die Zäsur, sondern wie die Welt reagiert hat. Und das macht einen großen Unterschied: Denn man hätte auch anders (besonnener, moderater) reagieren können.
Wäre die Welt wirklich so viel unsicherer, wenn man Afghanistan und Irak nicht in Schutt und Asche gebombt hätte, wenn die deutschen AKW noch weiterlaufen würden, wenn auch in der Corona-Krise der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegolten und wenn man schon längst eine Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland gebaut hätte?
Wurde die Zeitenwende nicht eher herbeigeredet, herbeigesendet und herbeibeschlossen – in einer sich gegenseitig verstärkenden Hysterie aus Politik, Medien und Gesellschaft? (Ob und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen diese Entwicklung jeweils gezielt gefördert haben, ist eine ganz andere Frage.)
Natürlich stehen die Grünen hier nicht allein da.
Im Falle des Einmarsches in Afghanistan, Corona-Maßnahmen und Russland-Sanktionen bestand ein breiter Konsens im Deutschen Bundestag und auch innerhalb der so genannten westlichen Wertegemeinschaft.
Im Falle des Irakkriegs wurden zumindest Zweifel geäußert – und für den Atomausstieg waren die Grünen sowieso.
Grundsätzlich sehe ich in den Grünen eine positive gestalterische Kraft, die auch auf kommunaler Ebene sehr viel Gutes bewirkt. Deswegen bin ich ja vor 8 Jahren eingetreten, obwohl das für mich politisch durchaus ein weiter Weg war und ich auch heute nicht in allen Punkten auf der Linie der Grünen bin.
Aber als Mitglied einer Partei muss man immer Kompromisse machen, das ist ja auch das Wesen der Demokratie. Meine erste Kreisversammlung (mit Toni Hofreiter) habe ich in sehr guter Erinnerung – in diesem kleinen, nicht-öffentlichen Kreis wurde entgegen dem Klischee überhaupt nicht „ideologisch“ argumentiert, sondern mit tiefem Fachwissen und viel gesundem Menschenverstand.
Gerade deswegen ist für mich der moralische Rigorismus der Grünen-Führung absolut nicht nachvollziehbar und auch unerträglich. Diese Position hat sich nach dem ersten Schock vom 24. Februar leider nicht gelockert, sondern eher verfestigt. Die Grünen sind hier nicht Getriebene, sondern Treiber. Ein Gegenantrag der Grünen Jugend wurde am 30.4. abgelehnt; ein Aufruf für eine Urabstimmung ist weit davon entfernt, das notwendige Quorum (5% der Mitglieder) zu erhalten. Daher halte ich es für konsequenter, meine Parteimitgliedschaft zu beenden.
Die Reaktion des Westens auf den russischen Angriff ist moralisch selbstgerecht, aber inkonsistent. Sie ist geopolitisch blind für die Ursachen des Krieges (der eben nicht wirklich überraschend war), kaschiert das diplomatische Versagen im Vorfeld, kurzsichtig in Bezug auf ihre Wirkung und zementiert nur die wirtschaftliche und militärische Hegemonie der USA. Europa verzwergt sich im Schatten der NATO, anstelle endlich eine von den USA unabhängige, an europäischen Werten und Interessen ausgerichtete Sicherheitspolitik zu verfolgen. Diese Chance dürfte nun für die nächsten Jahrzehnte verbaut sein.
Der Begriff „Zeitenwende“ hat die Wirkung eines Totschlagarguments.
Sachlich und differenziert vorgetragene Gegenargumente werden oftmals pauschal abqualifiziert. Wer sie vorbringt, wird in einen Topf mit Verschwörungstheoretikern geschmissen oder gilt als Opfer russischer Propaganda. Der politische Diskurs wird durch moralischen Rigorismus und das Tina-Argument („There is no alternative“) ersetzt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit? – Fehlanzeige!
Klar, man könnte nun sagen: So funktioniert eben Demokratie im Medienzeitalter. Das stimmt. Aber sollte sie nicht irgendwie anders funktionieren? Zumindest bei mir bleibt starkes Störgefühl. Das Bild einer im Grunde doch weitgehend programmatischen, rationalen Politik wird gestört. Denn kaum kommen die immer gleichen Bilder aus New York, Fukushima, Bergamo oder Kiew in den Nachrichten, scheint das Parteiprogramm Makulatur. Das Stammhirn regiert. Als Rechtfertigung wird eine Zeitenwende ausgerufen.
Vielleicht bin ich auch nur total naiv. Aber wenn dieser irrationale Politik-Modus sich als Standard etabliert, dann sind viele unserer programmatischen Diskurse nur noch eine Farce. Dann brauchen wir keine Parteitage und -programme mehr, sondern können wir es der kollektiven politisch-medialen Krisendynamik überlassen, was uns die nächste „Zeitenwende“ beschert. Sie wird sicher anders ausfallen, als wir erwarten.
Quelle: Nachdenkseiten.de
Bild: Radion Qfm Edition Warum ich bei der Partei Die Gruenen austrete piqsels.com-id-jgiyn
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