Möchten Sie, dass die Polizei Ihre Whatsapp-Chats und Handy-Fotos jederzeit kontrollieren darf? Erstmals in der Schweiz wird genau das geplant
Bei Polizei- und Strafverfolgungsbehörden wächst das Bedürfnis, auch ohne konkreten Tatverdacht in die Privatsphäre einzudringen. Der Kanton Thurgau will dabei besonders weit gehen. Juristen befürchten, das könnte die Arbeit der Ermittler sogar erschweren.
Es ist ein warmer Spätsommerabend, als vier uniformierte Polizistinnen und Polizisten sämtliche Passanten in der Zürcherstrasse in Frauenfeld auffordern, ihre Handys zu entriegeln und vorzuzeigen. Die Beamten interessieren sich vor allem für Whatsapp-Chats, Telegram-Nachrichten und Anruflisten. Grund für die Kontrollen sind radikale Online-Aufrufe zu einer Demonstration in der Innenstadt, nachdem die harte Bestrafung einer Klimaaktivistin durch ein Thurgauer Gericht in der ganzen Schweiz für Empörung gesorgt hat.
Die Polizei will deshalb Randalierer möglichst früh aufspüren und aus dem Verkehr ziehen – noch bevor die ersten Schaufensterscheiben in Bruch gehen. Die meisten Frauenfelder sind kooperativ und zeigen ihre Handys anstandslos. Sie sind solche Polizeiaktionen längst gewohnt. Nur vereinzelt werden die Beamten in lästige Privatsphären-Debatten verwickelt.
An Schwammigkeit kaum zu überbieten
Diese Szenen sind frei erfunden – und dennoch von der Wirklichkeit nicht allzu weit entfernt. Im Mai hat das Thurgauer Parlament ein Polizeigesetz beraten, das es der Polizei praktisch schrankenlos erlauben soll, elektronische Geräte einzusehen. Und dies, bevor überhaupt ein Delikt begangen worden ist oder ein konkreter Tatverdacht vorliegt. Es handelt sich sozusagen um eine Überwachungsmassnahme auf Vorrat.
Einzige Bedingungen für die Polizei sind, dass der Handybesitzer bei der Sichtung dabei ist und die Durchsuchung der Gefahrenabwehr oder der Erkennung von Vergehen und Verbrechen dient – eine an Schwammigkeit kaum zu überbietende Einschränkung. Ein derart weit gehender Eingriff in die Privatsphäre zu rein präventivpolizeilichen Zwecken galt in der Schweiz bisher als Tabu. Einzig das Polizeigesetz des Kantons Bern kennt eine ähnliche, wenn auch deutlich enger gefasste Bestimmung.
Eine Mehrheit des Thurgauer Parlamentes nahm den Vorschlag, der ursprünglich von der Sicherheitsdirektorin Cornelia Komposch (SP) initiiert worden war, Anfang Mai jedoch unbekümmert an. Während viele Menschen ihr Smartphone nicht einmal dem Partner oder der Partnerin anvertrauen, hat die Mehrheit des Thurgauer Parlamentes keine Mühe mit dem Gedanken, dass ein fremder Beamter Mails und Anruflisten durchforstet.
Ist es so schlimm, wenn die Polizei Fotos sichtet?
«Ist es denn so schlimm, wenn die Polizei nachschaut, mit wem ich als Letztes telefoniert oder was ich als Letztes fotografiert habe?», fragte ein Mitte-Politiker während der Debatte, eine Bemerkung, die das Argumentationsmuster im Rat ziemlich treffend wiedergibt. Der damit verbundene Eingriff in die Privatsphäre wurde zwar thematisiert, doch diesbezügliche Bedenken wurden als Misstrauensvotum gegenüber der Polizei abgetan. Am Ende kam Widerstand praktisch nur von links und von der FDP.
Handys, Tablets und Computer sind für die Polizei von unschätzbarem Wert: Hier finden sich massenweise Informationen, die zur Aufklärung von Verbrechen oder zu deren Verhinderung beitragen können. Der Wunsch von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, die digitale Kommunikation auswerten zu können, ist deshalb verständlich.
Das neue Thurgauer Polizeigesetz ist ein Beispiel dafür – allerdings keineswegs das einzige.
In der Strafverfolgung ist es schon lange normal, Handys oder Computer zu untersuchen. Ohne diese Möglichkeit wäre es in vielen Fällen gar nicht möglich, Verbrechen aufzudecken und zu klären. Doch weil damit ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre verbunden ist, knüpft die eidgenössische Strafprozessordnung diese Zwangsmassnahme an strenge Voraussetzungen.
So werden die Möglichkeiten der Ermittler beschränkt. Bis heute ist aus diesem Grund beispielsweise offen, ob verdächtige Mails, die während der Pandemie zwischen einem früheren Berater von Alain Berset und dem Ringier CEO-Marc Walder hin- und hergeschickt wurden, von den Ermittlern ausgewertet werden dürfen. Im Moment sind die Geräte versiegelt.
Schweiz könnte von EU-Plänen betroffen sein
Heikel wird es vor allem dann, wenn Geräte präventivpolizeilich durchsucht werden dürfen – also ohne konkreten Verdacht und mit dem Ziel, allfällige Straftaten zu verhindern. Doch auch hier nimmt die Bereitschaft zu, in die Privatsphäre einzudringen. So hat die EU-Kommission vor einem Jahr ein Gesetzesprojekt für eine sogenannte Chat-Kontrolle lanciert. Private Nachrichten sollen in der EU künftig auf Inhalte gescannt werden können, um Fälle von Kindsmissbrauch und Kinderpornografie aufzuspüren.
Die Pläne sorgten in den EU-Ländern für Widerspruch und in der Schweiz für Irritationen. Die Zürcher GLP-Nationalrätin Judith Bellaiche verlangt in einer Motion, der Bundesrat müsse die Einwohner der Schweiz vor solcher Überwachung schützen. Sie befürchtet, dass der elektronische Verkehr unbescholtener Menschen bald rund um die Uhr durchforstet werden kann. Das verletze jedoch, sagt sie, die Privatsphäre und widerspreche der Bundesverfassung und der Menschenrechtskommission.
Adrian Lobsiger, eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter, teilt die Befürchtungen: Er gehe davon aus, dass die Kommunikation von Kunden privater Messenger-Anbieter «während einer Phase von mehreren Monaten flächendeckend überwacht» würde, sagte er kürzlich der «NZZ am Sonntag».
Auch Einwohner der Schweiz könnten davon betroffen sein. Allerdings sind die Einzelheiten des EU-Vorhabens noch nicht bekannt. Noch in dieser Session wird Bellaiches Motion im Nationalrat behandelt.
Ein verheerendes Gutachten
Die Pläne der EU und die des Kantons Thurgau sind nicht identisch. Gemeinsam ist ihnen indessen die Absicht, die Gesetze so zu lockern, dass Ermittler unabhängig von einem konkreten Tatverdacht digitale Kommunikationskanäle auswerten können. Auch die Kritik kommt in beiden Fällen aus derselben Ecke: einerseits von links, andererseits von den Liberalen. Die Chat-Kontrolle habe in einem Rechtsstaat nichts zu suchen, twitterte kürzlich der deutsche Justizminister Marco Buschmann (FDP).
Auch im Kanton Thurgau ist es die FDP, die die Opposition anführt. Nach dem Parlamentsbeschluss von Anfang Mai gab sie ein juristisches Gutachten in Auftrag, an dem sich auch die bekannte Zürcher Staatsrechtsprofessorin Regina Kiener als Mitautorin beteiligte. Es kommt zum Schluss, dass die vom Thurgauer Parlament verabschiedete Bestimmung in der jetzigen Fassung «nicht mit der Verfassung zu vereinbaren» sei.
Die Autoren gehen sogar noch einen Schritt weiter: Das Gesetz sei möglicherweise kontraproduktiv für die Polizeiarbeit. Dies weil die Vorgaben im geplanten Gesetz viel weniger streng seien als jene in der eidgenössischen Strafprozessordnung. Aus diesem Grund könnten Beweise, die die Polizei gestützt auf das neue Thurgauer Gesetz erhebe, in einem späteren Strafprozess wertlos werden, schreiben die Studienautoren.
Das Gutachten stellt dem Gesetzesentwurf ein so verheerendes Zeugnis aus, dass die Gegenseite noch auf ein Scheitern hofft: In dieser Woche behandelt das Thurgauer Parlament die umstrittene Vorlage in zweiter Lesung.
Text: NZZ
Bild: Radio Qfm
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