Wer in diesen Tagen unseren nördlichen Nachbarn Dänemark besucht, macht gleichzeitig eine Reise in die „alte Normalität“.
Seit dem 10. September sind dort sämtliche Corona-Maßnahmen außer Kraft gesetzt.
Ich hatte das Vergnügen, mir in der letzten Woche ein Bild von einem Land zu machen, das dem unseren zwar recht ähnlich, aber vor allem in dieser Zeit doch auch in vielen Dingen vollkommen unterschiedlich ist.
Man kann nur hoffen, dass dies nicht nur ein Blick in die Vergangenheit, sondern auch ein Blick in die Zukunft sein kann – ein Blick in ein Land, das – anders als Deutschland – es verstanden hat, rational auf Corona zu reagieren.
Von Jens Berger.
Glaubt man dem „World Happiness Report“, zählt Dänemark schon seit vielen Jahren zu den glücklichsten Ländern der Welt.
Und das hat auch seinen Grund.
Wie kaum einem anderen Land ist Dänemark in den letzten Jahrzehnten der Spagat zwischen einem starken Staat und einem ausgeprägten Freiheitswillen recht erfolgreich geglückt.
Während Länder wie Deutschland in der Vergangenheit eine Politik betrieben, die zur sozioökonomischen Spaltung der Gesellschaft führten, ist Dänemark heute ein vergleichsweise gerechtes Land mit einer breiten Mittelschicht, die durch deutliche Reallohnsteigerungen am technologischen und ökonomischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte partizipieren konnte.
Dem Dänen geht es gut und er vertraut seinem Staat.
Beides kann man heute von Deutschland und der Schweiz nicht mehr uneingeschränkt behaupten. Corona hat den Unterschied nicht nur verschärft, sondern macht ihn vor allem auch jenseits trockener Zahlen sichtbar.
Wer heute aus Deutschland nach Dänemark einreist, kann nicht nur seinen digitalen oder analogen Impfpass sowie die hierzulande zur neuen Normalität gewordenen Gesichtsmasken für die gesamte Dauer des Aufenthaltes getrost wegstecken, sondern sogar sämtliche Gedanken an Corona in den wohlverdienten Urlaub schicken.
In Dänemark spielt Corona im Alltagsleben nämlich keine Rolle mehr. Niemand interessiert sich für Impfnachweise oder Testergebnisse, niemand – außer ein paar versprengten deutschen Touristen – trägt dort eine Maske.
Noch nicht einmal in Krankenhäusern gibt es eine Maskenpflicht. Nirgends Schilder, die einen ermahnen, Abstand zu halten; nirgends Beschränkungen oder Einschränkungen. Wer Dänemark besucht, besucht ein Land ohne Corona.
Wie konnte es dazu kommen? Dazu gibt es eine vor allem in Deutschland in den Medien und der Politik kursierende Geschichte, die jedoch größtenteils falsch erzählt wird. Diese Geschichte geht so:
„Dänemark hat gesagt, wenn diese Impfquote erreicht wird, werden wir öffnen“, so der SPD-„Gesundheitsexperte“ Karl Lauterbach.
Die Botschaft:
Wenn sich nur genügend Menschen impfen ließen, könnte auch Deutschland ein wenig Dänemark wagen und die Maßnahmen herunterfahren. Letztlich sei also der Bürger – und hier vor allem der ungeimpfte Bürger – dafür verantwortlich, dass die Politik gar nicht anders könne.
In Wahrheit verlief der dänische Weg zur Öffnung jedoch diametral anders.
Und die nun vollzogene komplette Abschaffung der Maßnahmen hatte ein sehr langes Vorspiel, das nur sehr wenig mit der Impfbereitschaft der Bevölkerung zu tun hat.
Anfang März dieses Jahres gingen sowohl in Deutschland als auch in Dänemark die Zahlen der Covid-19-Todesopfer deutlich zurück.
Die Winterwelle war vorbei, die Impfungen innerhalb der Hochrisikogruppe zeigten die ersten Erfolge.
Am 22. März verkündete die dänische Regierung daher als weltweit erste Regierung überhaupt ein klar formuliertes Exit-Szenario.
Von einer Impfquote ist darin überhaupt nicht die Rede.
Es heißt dort vielmehr, dass der Staat die Maßnahmen nun schrittweise zurückführen und größtenteils einstellen wird, wenn jedem Angehörigen der Risikogruppe und allen Menschen über 50 Jahren ein Impfangebot gemacht wurde.
Am 6. April öffneten die dänischen Schulen wieder, am 16. April wurde die Wiederöffnung der Gastronomie beschlossen. Zum Vergleich: Am 23. April trat in Deutschland die sogenannte „Bundesnotbremse“ in Kraft, die sogar Ausgangssperren vorsieht.
Das dänische Ziel, allen Impfwilligen der genannten Gruppen ein Angebot zu machen, war dann am 14. Juni erreicht. Seitdem ist in Dänemark die Maskenpflicht auch in Schulen und Geschäften abgeschafft – nur im Öffentlichen Nahverkehr galt sie noch ein paar Wochen länger. Zu diesem Zeitpunkt lag die Impfquote in Dänemark übrigens bei unter 50%. Die dänische Form der 3G-Regelung, der sogenannte „Coronapass“, wurde für alle Bereiche außer Großveranstaltungen wie Fußballspiele oder den Besuch von Diskotheken am 1. September außer Kraft gesetzt. Der auch von den deutschen Medien beachtete 10. September war in praktischer Hinsicht lediglich ein kleiner, endgültiger Schritt, mit dem eigentlich nur noch die 3G-Regelung für diese beiden Ausnahmen ebenfalls gestrichen wurde. Wichtiger war jedoch die Aussage der dänischen Regierung, die bereits im August mit der Verkündung dieses letzten Schritts einherging: „Die Pandemie ist unter Kontrolle. Covid 19 ist keine gesellschaftskritische Krankheit [mehr]“, so der dänische Gesundheitsminister.
Die hierzulande viel zitierte Impfquote war dabei nur eine nachrangige Größe. Die Zahlen, die für die dänische Regierung maßgeblich waren, waren einerseits das Impfangebot und andererseits die Lage in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen. Und hier gibt es zwischen Deutschland und Dänemark keine großen Unterschiede. Seit dem Frühling vermelden die dänischen Behörden weniger als ein halbes Dutzend von mit Covid im Zusammenhang stehende Todesfälle pro Tag – an vielen Tagen wurde im Sommer und Herbst kein einziger Todesfall vermeldet. Daher sah auch die dänische Regierung keinen Grund mehr für Einschränkungen gleich welcher Art.
In Deutschland heißt es nun, Dänemark konnte diesen Schritt nur gehen, weil die Impfquote dies erlaube.
Doch das ist Unsinn.
Zum einen wurden sämtliche Lockerungen und auch die Beendigung der Maßnahmen in Dänemark bereits beschlossen, als die Impfquote noch deutlich niedriger war und zum anderen ist es gar nicht bekannt, ob die Impfquote in Dänemark überhaupt signifikant höher als in Deutschland ist.
Die von den dänischen Behörden genannte Impfquote von 85% bezieht sich nämlich nur auf die Personen, die auch ein Impfangebot bekommen haben. Die noch höheren Zahlen der europäischen Behörde ECDC beziehen sich sogar „nur“ auf die über 18-Jährigen, die ein Impfangebot bekommen haben.
Vergleicht man aber die Impfquote der Gesamtbevölkerung, so steht Dänemark mit 76,5% auch nur wenige Prozentpunkte vor Deutschland mit 68,5%, wobei man beim deutschen Wert nach RKI-Angaben noch einmal rund fünf Prozentpunkte addieren muss, da das RKI ja noch nicht einmal in der Lage ist, die Impfungen verlässlich zu zählen und man von einer massiven „Unterschätzung“ ausgehe. Addiert man also diese fünf Prozentpunkte, kommt man für Deutschland auf einen Wert von 73,5% – bezogen auf die Gesamtbevölkerung also gerade mal drei Prozentpunkte weniger als Dänemark. Weitere Aussagen zur Impfquote sind leider nicht seriös möglich. Wie hoch beispielsweise die Impfquote innerhalb der Hochrisiko- und Risikogruppen in Deutschland ist, weiß das RKI auch nicht.
So gering der Unterschied ist, so plausibel lässt er sich erklären. In einem Land, in dem die Bürger Vertrauen in den Staat und die Gesundheitsbehörden haben, liegt auch die Impfbereitschaft höher als in einem Land, in dem dieses Vertrauen in einigen Bevölkerungsgruppen nicht sonderlich ausgeprägt ist. Und die dänischen Behörden haben sich dieses Vertrauen ja auch erarbeitet, indem sie z.B. als erste überhaupt die Impfungen mit AstraZeneca wegen beobachteter schwerer Komplikationen ausgesetzt und auch nicht wieder aufgenommen haben. In Deutschland wüsste man womöglich gar nichts von diesen Komplikationen, hätten die Behörden in Dänemark und Norwegen nicht Alarm geschlagen.
Doch diese Fragen sind eigentlich nebensächlich, da (s.o.) Dänemark seine Lockerungen und das Ende sämtlicher Maßnahmen und Einschränkungen ja eben nicht von der Impfquote abhängig gemacht hat und die Situation in den Krankenhäusern trotz angeblich unterschiedlicher Impfbereitschaft sich in Deutschland nicht großartig von der in Dänemark unterscheidet.
Es sind also nicht die ganzen Kennzahlen, über die wir seit Beginn der Pandemie so häufig sprechen, sondern etwas Grundlegenderes, was den Unterschied zwischen Dänemark und Deutschland ausmacht. Und das ist der Einklang von einem starken Staat mit dem ausgeprägten Freiheitswillen seiner Bürger. Dieser Einklang ist in Deutschland nun einmal nicht vorhanden. Zudem fehlt das wechselseitige Vertrauen von Staat und Bürgern. Der Deutsche vertraut seinem Staat nicht und der deutsche Staat vertraut seinen Bürgern nicht. Das ist in Dänemark anders und das ist auch der eigentliche Grund, warum Dänemark sich von Corona verabschiedet hat, während Deutschland sich in eine Gesellschaft zu verwandeln droht, in der Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen oder können, stigmatisiert und sanktioniert werden. Ja, wir müssten mehr Dänemark wagen. Sonst sieht unsere Zukunft düster aus. Und das geht weit über Corona hinaus.
P.s.: Welche Rolle die Medien bei dieser Entwicklung spielen, kann ich leider nicht einschätzen, da ich die dänischen Medien nicht gut genug kenne. Vielleicht findet sich unter unseren Lesern ja jemand, der vertrauter mit den dänischen Medien ist und sich eine Einschätzung zutraut.
Quelle: Podcast von Tobias Riegel für die Nachdenkseiten
Bild: – Pixabay – Edit – GioeleFazzeri
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